Feldpost 1939 – 1943
Vorwort
1.
Es waren verschiedene Beweggründe, die mich zur Beschäftigung mit der Feldpost meines Vaters gebracht, und auch gemischte Gefühle, die mich dabei begleitet haben.
Vor Jahren besuchte ich meine 2007 verstorbene ältere Schwester Berthild in Hamburg. Ich hatte zwei Päckchen mit Briefschaften unseres Vaters aus den Jahren 1917 und 1918 dabei. Papa hatte die Gewohnheit gehabt, seine Post jahrgangsweise zu sammeln, zu verschnüren und zu versiegeln. Berthild konnte seine Sütterlin-Handschrift lesen. Sie war 1941 eingeschult worden und hatte als erstes noch Sütterlin gelernt. Und so haben wir zusammen Briefentwürfe von Papa und an ihn gerichtete Schreiben aus dem ersten Weltkrieg und danach entziffert, allerdings ohne unsere Lektüre in heute lesbarer Schrift zu fixieren.
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Oft handelte es sich um Dankschreiben für Pakete oder Päckchen, die unser Vater, Jahrgang 1900, als Oberschüler an ihm mehr oder weniger gut bekannte, junge Frontsoldaten geschickt hatte. Es ist auch ein langer, quasi professionell abgefasster Bericht aus seiner Feder über ein mehrtägiges (auch nächtliches) Kriegsspiel dabei: eine Gruppe von Gymnasiasten hatte den Auftrag, den Feldberg (Schwarzwald) zu erobern, die andere diesen Angriff abzuwehren.
So nahm er also schon als Halbwüchsiger leidenschaftlich am Kriegsgeschehen Anteil.
Naturgemäß galt mein Hauptinteresse der Person meines Vaters, seinen Bindungen und Interessen, Hoffnungen und Befürchtungen, Neigungen und Vorlieben, seinen Stärken und Schwächen. Ein besonderer Reiz für mich war aber auch – jetzt ohne kundige Hilfe der Schwester – die Entzifferung von Papas Sütterlin-Handschrift. Er schreibt exakt und damit prinzipiell recht leserlich, aber nicht selten winzig klein und sehr eilig, um nicht zu sagen flüchtig (oder „rasch,“ ein kurzes, von ihn gern benutztes Wort, das mir in seinem Sütterlin zuerst ein echtes Rätsel war).
Die gemischten Gefühle ergeben sich zunächst aus der gebotenen Diskretion. Ist es fair, als Nachfahre Höchstpersönliches wie Liebeserklärungen und Eheprobleme ans Licht zu zerren? Sind Bekenntnisse zum Nationalsozialismus und zum Führer nicht Peinlichkeiten, die besser vergessen bleiben sollten? Zutiefst aber verstört mich seine Bejahung des „harten Kampfes“ und des „schicksalhaften Ringens um Deutschlands Zukunft,“ die unser Vater mit der Zukunft seiner Kinder gleichsetzt. Er war ein überzeugter Anhänger Hitlers. Der Führer habe ihm den Glauben an Deutschlands Zukunft wiedergegeben und (damit) zugleich die Gründung einer Familie ermöglicht. Ich komme auf die Kriegsbejahung und die Bejahung des Nationalsozialismus unten (Nr. 8) noch einmal zurück.
2.
Die Feldpost unterlag der Zensur. Das wusste man. Kritisches über den Sinn des Krieges oder die Art der Kriegsführung wäre also, wenn überhaupt, allenfalls zwischen den Zeilen zu erwarten. Aber auch dort findet sich von dieser Art herzlich wenig. Außerdem handeln die Briefe nur ganz am Rande von der allgemeinen politischen oder militärischen Lage.
Ganz im Vordergrund stehen das unmittelbare Geschehen, das eigene Befinden, die Schilderungen der Landschaft und Ähnliches, also tagebuchartige Aufzeichnungen. Aber auch das ferne häusliche Geschehen beschäftigt den Briefschreiber, der seiner Frau ab und an höchst detaillierte Ratschläge zur Lösung dieser oder jener organisatorischen Aufgabe erteilt. Auch seine unmittelbaren, alltäglichen Bedürfnisse wie Ernährung, Kleidung und Unterbringung kommen zur Sprache, wobei die Ernährung wegen seines chronischen Magenleidens den ersten Platz einnimmt.
Von besonderem Interesse für Papas Persönlichkeit sind seine – auch kritischen – Selbstbetrachtungen sowie sein Versuch, sich mit Mama auf gemeinsame Ziele des künftigen Zusammenlebens und auf Grundsätze für die gemeinsame Kindererziehung zu verständigen, – etwas abgehobene, wenn nicht gar furchteinflößende Maximen von Zucht und Ordnung. Mama ging schließlich im Frühjahr 1942 auf Papas Wunsch nach Klärung ihrer beiderseitigen Lebensentwürfe ein und brachte ihre Sicht zu den von ihm aufgeworfenen Ehe- und Erziehungsfragen zu Papier – teils zustimmend teils abweichend, teils in Glossen zu Papas Epistel, teils in einem eigenen langen Brief vom März/April 1942. Papa war froh darüber. Dabei akzeptierte er auch Mamas (seine Strenge abmildernden) Einwände einfach so – es sei angesichts der Übereinstimmung in den wesentlichen Fragen nicht angebracht, Details zu zerpflücken.
3.
Der Soldat Richard Motsch hatte – paradoxerweise anders als der in seinem Beruf aufgehende, ehrgeizige Zivilist – Zeit zum Nachsinnen über sein Leben, zur Klärung von Gedanken, Wünschen und künftigen Vorhaben und zur Abfassung langer Briefe, aber auch immer wieder einmal Zeit zum Reiten, Zeichnen, Aquarellieren und Niederschreiben von „Erinnerungen aus Kriegs- und Friedenszeiten – Erinnerungen aus dem Ostfeldzug 1941.“ [1]
Etwas Besonderes sind für mich Papas Aquarelle. Sie zeigen genaue Beobachtung, eine Liebe zu minutiösen Details, geduldige, disziplinierte Sorgfalt der Ausführung, kurz: seine Freude auch an unspektakulären Motiven, die dank der Aufmerksamkeit des sie gestaltenden Betrachters schön sind. Die Miniaturen in den ohnehin kleinformatigen Bildern sind oft erst mit dem zweiten Blick zu entdecken. Angesichts ihrer Vielzahl dachte ich zuerst daran, die Bilder bei der Wiedergabe – Platz sparend – zu verkleinern, bis mir aufging: man muss sie vergrößern! So bekam der Bildteil allmählich sein eigenes Gewicht. Mama ist mit vier herbstlichen Aquarellen aus Bernau von 1940 vertreten, ihrem „Wiederanfang nach den Kindern“, wie von Eckarts Hand auf einer der Rückseiten – wohl bei einem Gespräch mit Mama – vermerkt ist.
4.
Papas Tonfall ist nicht selten belehrend. Doch ist er immer wieder auch selbstkritisch. In einem offenbar nicht abgesandten, längeren Brief vom 14. 4. 40 (018) bezeichnet er seine eigenen Ausführungen nach nochmaliger Lektüre am 7. 6. 41 als eine Aneinanderreihung von Banalitäten, die ihm selbst nicht gefielen. Ironie und Witz fehlen nicht völlig, gehen aber meistens unter in einer nüchternen Ernsthaftigkeit und einem fast selbstquälerischen Ringen um Einsicht und Klarheit, um „Vervollkommnung der eigenen Persönlichkeit (im Sinne Goethes)“, aber auch in einem Harmoniebedürfnis, einem – von Selbstbezogenheit nicht freien – Sehnen nach gegenseitigem Verstehen und Lösung der Probleme durch vertrauensvolle, offene Aussprache und seinem ausgesprochenen Pflichtbewusstsein. Ein drastischer Beleg für Humor ist seine Unterschrift unter einem kleinen Beitrag in der Satire-Zeitung des Kompanieführer-Lehrgangs vom 13. 3. bis 2. 4. 1941 in Mourmelon le Grand:
Mein Herzenswunsch
Im Lehrgang ward ich Oberleutnant [2]
doch hab ich das dem Alter zu verdanken,
obgleich mir ist noch nicht bekannt
dass ich den Kurs hab bestanden
ich hoff darum im stillen Denken,
so mög man mir den Hauptmann schenken!
(Mot schheiß ich).
Der holpernde Sechszeiler nimmt die eigene militärische Laufbahn – und wohl auch eigenes Strebertum – auf die Schippe. Wer hätte unserem strengen Papa eine solche locker ironische, ja geradezu geschmacklose Verballhornung des eigenen Familiennamens zugetraut?
5.
Für Papa ist der briefliche Austausch mit seiner Mechthild während der Kriegszeit von größter Bedeutung. Er schreibt oft täglich. Die Faltbriefe und Feldpost-Karten sind zugleich ein Log- und Tagebuch, in dem er den Alltag mit seinen Freuden und Beschwernissen, die besonderen Vorkommnisse und Eindrücke festhält und anschaulich schildert. Mamas Briefe und Karten sind in viel geringerer Anzahl erhalten. Ihre Befindlichkeit kann allenfalls mittelbar erahnt werden. – Papa hatte Mama geheiratet, nicht umgekehrt. Wie sie sich im ersten Ehejahr in Lübeck in Erwartung ihres ersten Kindes fühlte, beschreibt sie in ihrem Brief vom 21. Januar 1935 (001) zum Geburtstag ihrer jüngeren Schwester, der Bildhauerin Guta von Freydorf, mit der sie eine lebenslange vertrauensvolle und kameradschaftliche Freundschaft verband. Als Gegengewicht zu den Briefen von Papa stelle ich diesen Brief an Guta der Dokumentation voran – zusammen mit dem schwungvollen Gästebucheintrag meines Patenonkels Max Eichin vom Juni/Juli 1935. Er hatte viel für Mama übrig!
6.
Aus dem Wehrpass unseres Vaters (Jahrgang 1900) ist folgende militärische Laufbahn zu entnehmen:
Er nahm am Ersten Weltkrieg (vom 21. Juni 1918 bis 2. 2. 1919 als „Weltkriegsgedienter“) und am Zweiten Weltkrieg vom 20. Oktober 1939 bis zum Tod in Kiew am 5. September 1943 teil, zunächst als Unteroffizier an der „Oberrheinfront“ (stationiert in Sulz a. N. und Pforzheim), sodann ab November 1939 in Frankreich (1. 4. 40: Leutnant der Reserve, 1. 2. 1941: Oberleutnant d. R.) und ab Ende April 1941 in Polen und Russland (I). Am 29. Oktober 1941 wurde er dort verwundet und kam zur Genesung ins Lorettokrankenhaus in Freiburg (vom 25. November 1941 bis 9. Januar 1942). Ab April 1942 war er wieder in Russland (II), bis ihn ein schweres Ischiasleiden im Sommer nach Oberschlema (Erzgebirge) und vom 12. September bis 20. Oktober 1942 nach Freiburg-St. Urban brachte. Von November 1942 bis Januar 1943 war er als ziviler Wasserbauingenieur in Agram (Zagreb) zu Vorstudien für die Regulierung der Save, ein von ihm selbst ausgesuchter „Arbeitsurlaub“. Doch ab Februar 1943 war er wieder als Ausbilder beim seinem Ersatzregiment in Karlsruhe-Knielingen und ab 21. Juli 1943 im Osten, und zwar auf der Krim und in der Ukraine (Russland III). Postum wurde unser Vater zum Hauptmann befördert (ab 1. September 1943).
Die Einträge im Einzelnen lauten:
„8. November 39 bis 29. Mai 40 Verwendung im Operationsgebiet Westfront/30. Mai bis 4. Juni 1940 Vormarsch durch Luxemburg, Belgien und Nordfrankreich/ 5. bis 25. Juni 40 Verwendung im Operationsgebiet während der Schlacht in Frankreich/ 26. Juni bis 1. Juli 40 Besetzung Frankreichs zwischen Somme und Seine/ 2. Juli 40 bis 23. April 41 Besatzungstruppe in Frankreich/ 26. April bis 21. Juli 41 Besatzungstruppe im Ostraum/für 22. Juni bis 27. Oktober“ –
sodann siehe Faksimile von Seite 33 des Wehrpasses“
„21. Juli bis 9. August 1943 Sicherung der Krim.“
Seine letzte Verwendung ergibt sich aus den Einträgen unter der Rubrik „Verwundungen und ernste Erkrankungen“:
Papas persönlicher und beruflicher Werdegang ist folgender:
Er studierte von 1919 bis 1922 (jeweils zwei Semester) in Freiburg, Karlsruhe, München und Hannover, zunächst Mathematik und Naturwissenschaften, danach Bauingenieurwesen (6 Semester). Als angestellter Ingenieur arbeitete er von 1922 bis 934, ab 1925 in leitender Funktion, in Gustavsburg b. Mainz, Berlin, Niederwartha und Dresden. 1930 bestand er in Dresden die Regierungsbaumeister-Prüfung mit einer Arbeit über die Planung der Wasserversorgung von Chemnitz für die nächsten 50 Jahre, also bis 1980. Er absolvierte sämtliche Prüfungen mit Bestnoten, was auch von seinen Arbeitszeugnissen gilt. Von Juni 1934 bis November 1937 war er in leitender Funktion im Tiefbauamt in Lübeck, danach Leiter des Tiefbauamtes Freiburg i. Br. (Oberbaurat).
1934 heirateten unsere Eltern in Karlsruhe. 1935, 1937 und 1938 wurden Berthild, Richard und Eckart geboren.
Nach dem Krieg stufte die „Säuberungsbescheinigung vom 20. 10. 1948 des Staatskommissars für politische Säuberung“ (sog. Entnazifizierung) unseren Vater als Mitläufer und Sympathisanten ein, gegen den keine Sühnemaßnahmen verhängt werden.
8.
Unser Vater verwendet anstelle des Attributs „unmenschlich“, das den Sachverhalt m. Er. zutreffend wiedergibt, das Wort „hart“: Es sei ein harter Kampf, ein hartes Ringen. Er befasst sich mit Nietzsche – und zwar mit dem Nietzsche des „Willens zur Macht“, also mit dem Nietzsche der damaligen Rezeption. Wie tief der damalige Zeitgeist auch Intellekuelle beherrschen konnte, zeigt die Reaktion eines Hugo Friedrichs auf die Szene zum Schluss des fünften Gesanges des Infernos von Dantes Göttlicher Komödie: Der von Vergil durch die Hölle geleitete Wanderer Dante fällt vom Leid der berühmten Liebenden Paolo und Francesca überwältigt um. „Ich fiel ie ein toter Körper zu Boden“ (E caddi come corpo morto cade). Friedrich kanzelt diese Mitleidsohnmacht Dantes als „philantropische Rührung“, ja als
„unangemesssenes Beben des Gemüts“ ab (vgl. Gustav Seibt SZ 3./4./5. April 2010), das dem Christen verboten sei und der „Strenge des metaphysischen Rrechtsbewußtseins gegenüberzustellen sei, die den Menschen nicht vor das Gericht des Menschen, sondern des Seinsgrunds stellt“ (H. Friedrich: Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie (1942) S. 3 – zit. nach Hartmut Köhler, in: Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie I S. 3). Allerdings hat schon damals E. R. Curtius scharfe Kritik an dieser Sichtweise geübt (Buchbesprechung in Romanistische Forschungen 56, 1942) und auf den Satz von Augustinus hingewiesen: „Dilige hominem, oderis vitium.“ (Liebe den Menschen, hasse das Laster).
Schon der Krieg von 1870/71 gegen Frankreich war ideologisiert und verherrlicht worden. Er war aber nichts anderes als ein Akt politischer Aggression von deutscher Seite, auch wenn es Frankreich war, das Deutschland den Krieg erklärte. Auch schon dieser Krieg war eine Orgie sinnloser Gewalt und Zerstörung. Von der Ideologisierung zeugen nicht nur die Sieges-Denkmäler und Siegesfeiern. Ich entnehme dies auch dem Buch „Richard Ris. Kriegserlebnisse“, hrsg. von Frau Tilia Ris [3], 1911 im Selbstverlag erschienen, das vor mir liegt. Und erst recht war der Erste Weltkrieg ein verbrecherischer Wahnsinn von unvorstellbarem Ausmaß, minutiös dokumentiert in dem 1225 Seiten starken Werk „Geschichte des 1. Badischen Leib- Grenadier-Regiment Nr. 109“, 1927 erschienen als 154. Band der Erinnerungsblätter deutscher Regimenter [4]. Beide Werke schildern nüchtern und detailliert sowohl das grauenvolle Gemetzel und die barbarischen Zertrümmerungen als auch die selbstlose Aufopferung, Kameradschaft und Leidensfähigkeit der Soldaten. Genau festgehalten sind jeweils nicht nur die eigenen Verluste (Tote und Verwundete) sondern auch die – geschätzten – gegnerischen Verluste.
Das Fazit beider Chroniken ist obsiegendes Heldentum und männlicher Stolz auf
das 1. Badische Leib-Grenadier-Regiment Nr. 109. Oberstleutnant a. D. Rudolf von Freydorf schreibt in der eben genannten „Geschichte des Badischen Leib-Grenadier-Regiments“ in seinem Rückblick auf den Kriegsverlauf auf Seite 705:
„Wenn sonach die äußeren Eindrücke, die das Regiment bei seiner Rückkehr in eine alte Garnison und in die Heimat empfing, wenig erfreulich waren, so konnte es mit um so größerer innerer Befriedigung darauf zurückblicken, wie es in mehr als vier Kriegsjahren seiner Pflicht fürs Vaterland genügt, in harten und schwersten Zeiten seinen Mann gestanden und, ohne je zu versagen, Taten wollbracht hatte, die zu den glänzensten dieses gewaltigsten aller Kriege zählen.“
Und auf Seite 713 lesen wir:
„Eine lange, von keiner einzigen Niederlage unterbrochene Reihe glänzender Siege hat so das Regiment gegen Franzosen und Engländer aller Farben und gegen Amerikaner errungen mit dem Gewehr, mit der Handgranate und mit dem Spaten, und unbesiegt ist es in die vor dem Wüten des Krieges verschonte gebliebene Heimat zurückgekehrt. An solchen Ruhmes hellstrahlendem Glanze nehmen alle Fünfundzwanzigtausend teil, die in diesem Kriege in den Reihen des Badischen Leib-Grenadier-Regiments gestanden haben.“
In Hinblick auf den Einsatz jedes Einzelnen besteht ein solches Fazit zu Recht. Aber ich als Nachfahre kann diese Kriege im Ganzen und ihre Durchführung im Einzelnen nur als ungeheure Verirrungen und Vergeudungen, als aberwitzige Alpträume und Verbrechen ansehen.
Dass „Kriegserlebnisse“ ein fatales Amalgam aus gesteigertem Dasein in mutvoller Kameradschaft einerseits und oft uneingestandenen, schwersten Traumata andererseits sind, zeigt, wie ich meine, eindrucksvoll ein Brief von Richard Ris vom 23. 2. 1908, den in dem oben genannten Buch fand. Darin schreibt er von einem ehemaligen Unteroffizier Hönig, der sich vor kurzem das Leben genommen und mit dem er in einer ganz besonderen, „blutsbrüderlichen“ Beziehung gestanden hatte. Der Brief von „Onkel Ris“ ist – ein Jahr vor seinem Tod – an nahe Verwandte gerichtet. Er lautet – von mir leicht gekürzt –wie folgt:
„Auerbach/: Hessen:/23. II. 08
Meine Lieben!
Für Eure freundlichen Wünsche zu meinem in seiner Wiederholung stets weniger erfreulich werdenden Doppelfeste, die mir durch diese Zeilen, mein lieber Eugen, geworden, sage ich herzlichsten Dank und bitte um Verzeihung, dass er nicht früher eingetroffen. …..
Die Nachricht, dass mein Bruder schwer erkrankt sei, hat zur Hebung meiner Seelenstimmung auch nicht beigetragen ebenso eine Kunde aus St. Gallen, dass einer meiner ehemaligen Grenadiere von 70 – ein schwer reicher Seidenfabrikant – sich in einem Anfall von Geistesstörung die Adern geöffnet habe und an Verblutung gestorben sei.
Wir waren 5 Tage lang seine Gäste gewesen …, als wir den Waldstädter See aufsuchten und habe ich an dem aufgeregten Wesen des ehemaligen Unteroffiziers Hönig wenig Gefallen gefunden. Ich war daher nicht allzu überrascht durch den Brief meines Freundes Oberst … Bühler, der mir den Hintritt H.s unter so bedauerlichen Umständen vermeldete; immerhin hat mich der tragische Tod eines sehr anhänglichen Grenadiers von 70 doch sehr erschüttert.
H. war jener Unteroffizier,/: Einjährige:/der in der Schlacht von Nuits den gezielten für mich bestimmten Schuß durch den Kopf erhielt, so daß ich von dessen Blut im Gesicht bespritzt wurde. Splitter seiner Zähne und der Backenknochen löste ich am nächsten Tage noch aus meinem Barte. Trotz der verschiedenen Chargen und Lebensstellungen waren wir zwei durch jenen Schuß gleichsam Blutsbrüder geworden und habe ich ihm Treue gehalten, unbeschadet seiner etwas excentrischen Lebensführung, von der ihn der in Geistesnacht vollführte Selbstmord zu seinem und der Seinigen Wohl erlöst hat. Ich habe noch nie einen Menschen zu beobachten Gelegenheit gehabt, der, wie dieser von Glücksgütern überhäufte Mann /: nette Frau, zwei prächtige Söhne und 2 dito Mädchen, herrliche Villa in entzückender Lage und last not least über 500 000 frcs Vermögen zu dem durch Erbfall noch 250 000 in nächster Zeit zu erwarten waren:/ es durch Nervosität verstanden hat Alles gegen sich auf- und seine Nebenmenschen hinter einander zu bringen. –
Die Sache geht mir heute noch durch den Kopf und war sie nicht am wenigsten Schuld, daß ich mit der Beantwortung der zahlreich zum 7 Febr. eingegangenen Briefe p. p. so in Rückstand geraten bin; – und ein Brief ist für mich jetzt eine Arbeit.
II. o8
Für mich ist nichts so schmerzlich, als die Abnahme meiner Sehkraft, denn sie verdammt mich, den meist so Arbeitsfrohen und Wissensdurstigen zur Untätigkeit, dem die Bilder der nächsten Zukunft – wenn von einer solchen überhaupt noch geredet werden kann – mit um so qualvollerer Deutlichkeit vor die Seele treten, als er gezwungen ist, das zerstreuende Alltagsleben mit geschlossenem Auge an sich vorüber ziehen zu lassen.
Bewahre Euch das Geschick noch lange vor der Erfahrung, daß das Leben etwas furchtbar Grausames ist.
Nochmals Dank und Gruß Onkel Ris.“
9.
Der Zweite Weltkrieg und der mit ihm einhergehende Völkermord aus Rassenwahn hat alle unvorstellbaren Schrecknisse der beiden vorhergehenden Kriege noch ein Mal potenziert. Ich kann mir diese Wiederholung und Steigerung des Wahnsinns nur so zurecht legen, dass ich nicht zwei Kriege sondern einen einzigen, von einem 20jährigen Waffenstillstand unterbrochenen Krieg darin sehe.[5] Trägt nicht jede Beschäftigung mit dieser Zeit, und sei es auch nur in Form der Transkription von familiärer Feldpost, zur Verharmlosung der Ungeheuerlichkeiten bei? Laufen nicht alle Versuche, das Unvorstellbare zu verstehen, darauf hinaus, es irgendwie plausibel zu machen, es zu bewältigen, wo es doch nur darum gehen kann, derartigen Verirrungen für die Zukunft vorzubeugen, so gut es eben geht, die Erinnerung an die Opfern wach zu halten, ihnen ihre Würde zurück geben? Wirkt nicht jede Bemühung, das Unverständliche zu verstehen, wie der Versuch, ihm doch irgend einen Sinn zu geben, es gar rechtfertigen zu wollen?
Die Verwerflichkeit des Zweiten Weltkriegs und seiner Verbrechen, der Wahnsinn von Kriegen überhaupt, lagen wohl außerhalb des Horizontes unseres Vaters, auch wenn er Mama gegenüber geäußert hat, das Regime müsse nach dem Krieg ein anderes werden. Er konnte sich die Schlechtigkeit der Sache, für die er angetreten und für die er mit Gesundheit und Leben einzustehen bereit war, in ihrem Ausmaß nicht eingestehen. Seine Briefe und Aquaelle geben Zeugnis von gelebtem Leben – von seiner Vielgestaltigkeit, von den Anforderungen – und Überforderungen – an sich selbst und seine Nächsten, von Verführbarkeit, nationalistischem Patriotismus und irregeleitetem Idealismus, aber auch von Leidensfähigkeit, Mut und Opferbereitschaft, Treue und Verantwortlichkeit, vom Schwanken zwischen Stolz auf eigene Fähigkeiten und Leistungen zum einen und Selbstzweifeln und Ängsten zum andern.
10.
Zwei Begebenheiten und Schicksale aus dem familiären Umkreis meiner Eltern halte ich für merkwürdig und will sie im Anhang dokumentieren. Die eine betrifft den Ersten Weltkrieg und unsern Großvater mütterlicherseits Eugen von Freydorf, die andere den im Zweiten Weltkrieg (am 23. März 1943 bei Lagoda – an der Jschorn -) gefallenen Alexander Spiegelhalter, ein Schwippschwager unseres Vaters und Patenonkel meines Vetters (2. Grades) Adolf Sehringer, der mir die letzten Briefe von ihm und über ihn zugänglich gemacht hat.
Im Offenburger Tagesblatt vom 10. August 1994 (Faksimile siehe Anhang „Eugen v.F.“), also dem 80sten Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges, ist zu lesen:
„Am 31. Oktober (1914) stirbt Landgerichtsrat Dr. Eugen von Freydorf, Hauptmann der Reserve im Badischen Leib-Grenadierregiment 109, der die zweite Kompanie des ersten Bataillons im Reserveregiment 238 „Karlsruhe“ in den Kampf führt. Eugen von Freydorf war am 29. Oktober an der Westfront verwundet worden. …“ Diese öffentliche Erwähnung verdankt er seinem Burschen, dem Musketier Ernst Bissing, denn dieser hat seine Ansprache am 16. Oktober 1914 als Kompaniechef an seine Männer überliefert. Tim Arnold, der Chefredakteur und Verfasser des Zeitungsartikels, konfrontiert diese Rede mit der – frühen (November 1914) – Einsicht von General Erich von Falkenhayn über die Unmöglichkeit Deutschlands, die Koalition aus Frankreich, Rußland und Großbritannien militärisch zu besiegen. Im Mittelpunkt von Arnolds Artikel steht die damals siebenjährigen Marta Schanzenbach, eine bedeutende Sozialdemokratin aus Gegenbach, die als junge Zeitzeugin zu Worte kommt. Ihre Mutter war in Frankreich in Stellung gewesen und hatte dem Kind ein positives Bild von den Franzosen vermittelt. Es konnte den Sinn des Krieges nicht begreifen und wurde später Pazifistin. Der Hinweis Tim Arnolds gegen Ende des Artikels, der Vater (Rudolph von Freydorf 1819 – 1882) des Gefallenen habe bis zum eigenen Todestag sich ein heldisches Bild seines Sohnes bewahrt, trifft allerdings nur mit der Maßgabe zu: Es war nicht der Vater sondern seine Mutter (Albertine, geb. Freiin von Cornberg 1846 – 1923). Das Nähere dazu im Anhang „Eugen v. F.“.
Das Andenken an Alexander Spiegelhalter berührt mich durch die menschliche Wärme und die Aufrichtigkeit der Beileidsschreiben. Sie lassen über alle Rhetorik hinweg den Soldaten, Kameraden und Freund in liebevoller Bewunderung lebendig werden, der Schmerz des Verlustes ist nachfühlbar. So wie auch er selbst in seinem Kondolenzbrief vom 25. Februar 1943 an die Eltern „unseres lieben Gretele“ innigen Anteil nimmt am Verlust seiner kleinen Nichte. Zum Wortlaut der Briefe siehe Anhang „Alexander Spiegelhalter“.
Was hatten denn die Deutschen in Frankreich oder in Rußland zu suchen? Wie im Hinblick auf unseren Vater bleibt auch in diesen beiden Fällen die Verstörung über den Mißbrauch von Heldentum und Opferbereitschaft und es bleibt die Verzweiflung über die Verführbarkeit durch eine – hier patriotische – Ideologie, eine Verführbarkeit, gegen die wahrscheinlich auch wir nicht wirklich gefeit sind.
[1] Der von Papa angelegte Klemmhefter enthält auf 49 handschriftlichen Seiten „Erinnerungen“ von Mitte April bis Ende Juli 1941, 11 Seiten mit aufgeklebten und kommentierten Fotografien, Zeitungsausschnitte, Tagesbefehle, die Lehrgangszeitung 13. 3. – 2. 4. 1941 in Mourmelon le Grand u. ä.
[2] Laut Wehrpasseintrag vom 24. 2. 41 wurde Papa mit Wirkung ab 1. 2. 41 zum Oberleutnant d. R. befördert, sodass ihn die Nachricht hiervon während des Lehrgangs erreicht haben wird.
[3] Richard Ris, Oberstleutnant a. D., während des Feldzuges 1870/71 Permierlieutenant und Kompanieführer im (1.) Badischen Leibgenadier-Regiment, muss ein Onkel unserer Großmutter Clara Ris, also unser Urgroßonkel, gewesen sein.
[4] Hrsg. von Rudolf von Freydorf, Oberstleutnant a. D. (jüngeren Bruder unseres 1914 gefallenen Großvaters Eugen von Freydorf – vgl. Anlage E. v. F.).
[5] In ihrem Leitartikel zum Gedenkjahr 2014 in der Süddeutschen Zeitung vom 11./12. 01. 2014 zitiert Franziska Augstein den französischen Marschall Foch, der gleich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs gesagt habe, dieser Friede sei wohl eher „ein zwanzig Jahre währender Waffenstillstand.“
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