Was ist Aufklärung?

I. Welt- und Menschenbild

Mein Fazit aus der Beschäftigung mit „Was ist Aufklärung?“, ja überhaupt mit Philosophie, ist:

Welt- und Menschenbilder, also Religionen und Ideologien, wollen sein – und sind auch tatsächlich- sich selbst erfüllende Prophetien! Die Menschen verinnerlichen ihre Botschaften. Sie schaffen Selbstbilder, Identitäten. Für den Einzelnen und die Gruppe, für das ICH und für das WIR.

Seit Menschengedenken tun sich Menschen und Gruppen von Menschen in Kriegen, Revolutionen und Völkermorden Ungeheuerlichkeiten an. Aufklärung bezweckt und verspricht Besserung, Fortschritt. Bisher vergeblich trotz den bewundernswerten Versuchen, aus den Katastrophen zu lernen: UNO und Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Völkermordkonvention und Internationaler Strafgerichtshof, Europäische Union, Friedensbewegungen und NGOs sind großartige Errungenschaften und Hoffnungsträger, aber immer noch nicht in der Lage, sinnlose Kriege und unbeschreibliche menschliche Katastrophen zu verhindern.

Gibt es einen Ausweg aus dem ‚Willen zur Macht!‘, dem egoistischen Individualismus, der zwangsläufig in den Untergang führt?

Der Ausweg ist die Abkehr zum einen:

  • vom Freund/Feind-Denken (Entfeindung) sowie vom Entweder/Oder-Denken,
  • vom kapitalistischen Wachstumspostulat und
  • von imperialistischem Nationalismus jedweder Prägung;

und zum anderen, positiv gesprochen:

  • Begegnungen auf Augenhöhe,
  • gute Nachbarschaft, Freundschaft,
  • langfristige Definition der Eigeninteressen,
  • Für Andere Dasein,
  • Nächsten- und Fernstenliebe,
  • Planet Erde als ‚lumbug‘, nämlich als Reisscheune, als gemeinschaftlich genutztes Bauwerk, in welchem die Ernte zusammengetragen, gelagert und nach gemeinsam bestimmten Kriterien allen für die Zukunft zur Verfügung steht.

II. Kant, Mendelssohn und O. Boehm

Omri Boehm bezeichnet diesen Ausweg aus dem individuellen Egoismus, sprich: aus dem Willen zur Macht mit dem Begriff: radikaler Universalismus. Er beruft sich dafür auf Abraham und Kant und deren Abkehr von absoluter Autorität jeglicher Art. Abraham hatte die Praxis des Menschenopfers beendet, Kant den Absolutismus überwunden.

Kants Schlusswort in seiner Abhandlung ‚Was ist Aufklärung?‘ von 1784 ist verklausuliert: Zwar stimmt er dem Aperçu von Friedrich II. zu: Räsoniert so viel ihr wollt, aber gehorcht!‘ Zugleich aber spricht er von ‚einem befremdlichen, nicht erwarteten Gang menschlicher Dinge.‘ In diesem Gang menschlicher Dinge sei, im Großen betrachtet, fast alles paradox.

Kant stellt (in etwas kryptischer Art und Weise) die „bürgerliche Freiheit“ der „Freiheit des Geistes des Volks“ gegenüber. Mehr bürgerliche Freiheit führe nur scheinbar zu mehr Freiheit des Geistes des Volks. Ein Grad weniger von bürgerlicher Freiheit verschaffe hingegen dem Geist des Volkes Raum, sich nach allem seinen Vermögen auszubreiten. Wörtlich: ‚Wenn denn die Natur unter dieser harten Hülle den Keim, für den sie am zärtlichsten sorgt, nämlich den Hang und Beruf zum freien Denken, ausgewickelt hat; so wirkt dieser (Hang) allmählich zurück auf die Sinnesart des Volks (wodurch dieses der Freiheit zu handeln nach und nach fähiger wird) und endlich auch sogar auf die Grundsätze der Regierung, die es zuträglich findet, den Menschen, der nun mehr als Maschine ist, seiner Würde gemäß zu behandeln.‘

Diese Sicht der Dinge hat Kant unter dem Eindruck der Französischen Revolution in seiner Abhandlung von 1795 „Zum ewigen Frieden“ so zusammengefasst:

„Die Natur will unwiderstehlich, dass das Recht zuletzt die Oberhand erhalte. Was man nun hier verabsäumt zu tun, das macht sich zuletzt von selbst, obzwar mit viel Ungemächlichkeit.“

Diese Sentenz steht am Ende seiner Überlegung, dass die selbstsüchtigen Neigungen der Menschen von der Vernunft dazu gebraucht werden können, rechtlichen Vorschriften Raum zu schaffen und so den Staat zum inneren und zum äußeren Frieden zu befördern.

Am Ende seiner Abhandlung von 1784 weist Kant in einer Fußnote auf Moses Mendelssohns gleichnamigen Essay hin, den er noch nicht kennt, aber auf den er gespannt ist: er fragt sich, inwiefern der Zufall wohl Einstimmigkeit der Gedanken zuwege bringen könne. –Beiden hatten, unabhängig voneinander, auf die in der Berlinischen Monatsschrift aufgeworfene Frage: „Was ist Aufklärung?“ reagiert.

Kommen Kant und Mendelssohn in ihren Essays tatsächlich zu im wesentlichen gleichen Antworten? Beidesind zutiefst überzeugt von Aufklärung als Weg zum allgemeinen, gesellschaftlichen Fortschritt. Zugleich treibt beide die Frage um, wie die öffentliche Ordnung, die für das Zusammenleben der Menschen unabdingbar ist, und die Selbstbestimmung jedes einzelnen miteinander in Einklang zu bringen sind, also die Frage nach dem Verhältnis von freiem Individuum zu staatlicher und gesellschaftlicher Ordnung. Beide unterschieden zwischen dem Menschen als Mensch und dem Menschen als Bürger:

Mendelssohn formuliert:

 „Die Aufklärung, die den Menschen als Mensch interessiert, ist allgemein ohne Unterschied der Stände; die Aufklärung des Menschen als Bürger betrachtet, modifiziert sich nach Stand und Beruf.“

Kant expliziert: Ein Offizier im Dienst, dem von seinen Oberen etwas befohlen wird, muss gehorchen und darf nicht über die Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit dieses Befehls räsonieren. „Es kann ihm aber billigerweise nicht verwehrt werden, als Gelehrter über die Fehler im Kriegsdienst Anmerkungen zu machen und diese seinem Publikum zur Beurteilung vorzulegen.“ Kant führt dies auch für den Geistlichen aus, der „nicht freie Gewalt hat, nach eigenem Gutdünken zu lehren, sondern daß er nach Vorschrift und im Namen eines anderen vorzutragen angestellt ist.“ Falls er diese Lehre mit seinem Gewissen nicht vereinbaren könne, müsse er sein Amt niederlegen. Der Gebrauch des angestellten Lehrers von seiner Vernunft sei Privatgebrauch, egal wie groß sein Auditorium sei, denn er richte einen fremden Auftrag aus. „Dagegen als Gelehrter, der durch Schriften zum eigentlichen Publikum, nämlich der Welt, spricht, mithin der Geistliche im öffentlichen Gebrauche seiner Vernunft, genießt einer uneingeschränkten Freiheit, sich seiner eigenen Vernunft zu bedienen und in seiner eigenen Person zu sprechen.“

Und Kant geht noch einen Schritt weiter: Könnte sich etwa eine Kirchenversammlung für alle Zukunft auf „eine unaufhörliche Obervormundschaft über jedes ihrer Glieder und vermittelst ihrer über das Volk zu führen“? Kant sagt: nein!  „Ein solcher Kontrakt, der auf immer alle weitere Aufklärung vom Menschengeschlechte abzuhalten geschlossen würde, ist schlechterdings null und nichtig; und sollte er auch durch die oberste Gewalt, durch Reichstäge und die feierlichsten Friedensschlüsse bestätigt sein. … Das wäre ein Verbrechen wider die menschliche Natur, deren ursprüngliche Bestimmung gerade in diesem Fortschritt besteht.“

Mendelssohn behandelt den Konflikt zwischen der herrschenden Ordnung und den Neuerungen der Aufklärung etwas zurückhaltender:

„Unglückselig ist der Staat, der sich gestehen muß, daß in ihm die wesentliche Bestimmung des Menschen mit der wesentlichen des Bürgers nicht harmonieren, daß die Aufklärung, die der Menschheit unentbehrlich ist, sich nicht über alle Stände des Reichs ausbreiten könne, ohne daß die Verfassung in Gefahr sei, zugrunde zu gehen. Hier (möge) die Philosophie die Hand auf den Mund legen! Die Notwendigkeit mag hier Gesetze vorschreiben oder vielmehr die Fesseln schmieden, die der Menschheit anzulegen sind, um sie niederzubeugen und beständig unterm Druck zu halten! ….. Wenn die wesentlichen Bestimmungen des Menschen unglücklicherweise selbst in Gegenstreit gebracht worden sind, wenn man gewisse nützliche und den Menschen zierende Wahrheiten nicht verbreiten darf, ohne die ihm nun einmal beiwohnenden Grundsätze der Religion und Sittlichkeit niederzureißen, so wird der tugendliebende Aufklärer mit Vorsicht und Behutsamkeit verfahren und lieber das Vorurteil dulden, als die mit ihm so festverschlungene Wahrheit zugleich mit vertreiben. Freilich ist diese Maxime von jeher Schutzwehr der Heuchelei geworden, und wir haben ihr so manche Jahrhunderte von Barbarei und Aberglaube zu verdanken. Sooft man das Verbrechen greifen wollte, rettete es sich ins Heiligtum. Allein demungeachtet wird der Menschenfreund in den aufgeklärtesten Zeiten selbst noch immer auf diese Betrachtung Rücksicht nehmen müssen. Schwer, aber nicht unmöglich ist es, die Grenzlinie zu finden, die auch hier der Gebrauch von Mißbrauch scheidet.“

Mendelsohn nimmt also die ‚Dialektik der Aufklärung‘ vorweg und schließt seinen Essay:

„Mißbrauch der Aufklärung schwächt das moralische Gefühl, führt zu Hartsinn, Egoismus, Irreligion und Anarchie. Mißbrauch der Kultur erzeuget Üppigkeit, Gleißnerei, Weichlichkeit, Aberglauben und Sklaverei.

Wo Aufklärung und Kultur mit gleichen Schritten fortgehen, da sind sie sich einander die besten Verwahrungsmittel wider die Korruption. Ihre Art zu verderben ist sich einander schnurstracks entgegengesetzt.

Die Bildung einer Nation, welche nach obiger Worterklärung aus Kultur und Aufklärung zusammengesetzt ist, wird also weit weniger der Korruption unterworfen sein.

Eine gebildete Nation kennet in sich keine andere Gefahr, als das Übermaß ihrer Nationalglückseligkeit; welches, wie die vollkommenste Gesundheit des menschlichen Körpers, schon an und für sich eine Krankheit oder der Übergang zur Krankheit genennt werden kann. Eine Nation, die durch die Bildung auf den höchsten Gipfel der Nationalglückseligkeit gekommen, ist eben dadurch in Gefahr zu stürzen, weil sie nicht höher steigen kann. – Jedoch dies führt zu weit ab von der vorliegenden Frage!“

Ich verstehe Mendelssohn so:

Die Menschheit benötigt Aufklärung, mehr Licht in der Dunkelheit. Nur so kommt sie voran. Aufklärung (Vernunft, Wissenschaft) ist die theoretische Seite der Kultur (Handwerk, Künste, Geselligkeitssitten). Beides gehört zusammen. Zu unterscheiden ist zwischen innerer und äußerer Aufklärung; Aufklärung des Menschen als Mensch (z. B. Religion) einerseits und Aufklärung des Menschen als Bürger (Mitglied der Gesellschaft, des Gemeinwesens, des Staates) andererseits.

Aufklärung braucht Augenmaß. Zuviel Aufklärung gefährdet, so wie die Dinge gegenwärtig liegen, die staatliche Verfassung. Hier halte sich die Aufklärung zurück („Die Philosophie lege die Hand auf den Mund!“). Es ist schwer, aber nicht unmöglich, die Grenze zwischen Gebrauch und Missbrauch der Aufklärung zu ziehen, d. h.: Aufklärung – ja, aber mit Maß und Ziel!

Ganz zum Schluss warnt Mendelssohn – geradezu seherisch – vor Nationalismus: Auf dem Gipfel drohe der Absturz: das Übermaß ihrer Nationalglückseligkeit ist die größte Gefahr für eine gebildete Nation.

Bei Mendelsohn kommen die Wörter Vernunft und Freiheit, die bei Kant von besonderer Bedeutung sind, nicht vor. Kant verzichtet auf Vokabeln wie Bildung, Kultur oder Nation, die für Mendelsohn wichtig sind. Das Welt- und Menschenbild beider stimmt aber überein: der Mensch als Mensch (Individuum) und der Mensch als Bürger (Glied der Gesellschaft und der staatlichen Ordnung). Und beiden geht es um die Menschenwürde für alle.

„Was es auch vor Fehler geben mag, denen die standhafteste Entschließung nicht allemal völlig ausweichen kann, so ist doch die wetterwendische und auf den Schein angelegte Gemütsart dasjenige, worin ich sicherlich niemals geraten werde, nachdem ich schon den größesten Teil meiner Lebenszeit hindurch gelernt habe, das meiste von demjenigen zu entbehren und zu verachten, was den Charakter zu korrumpieren pflegt.“ Das größte Übel, das ihm begegnen könnte, aber „ganz gewiß niemals begegnen wird“, würde der „Verlust der Selbstbilligung“ sein, die „aus dem Bewußtsein einer unverstellten Gesinnung entspringt“ Und nun, nach dem so gezeigten Mut zur radikalen Konsequenz im Denken, der Verachtung alles äußeren Scheins und der unbedingten Wahrhaftigkeit vor sich selbst, die Einschränkung, die er gegenüber dem Aussprechen der Wahrheit macht: „Zwar denke ich vieles mit der allerklärsten Überzeugung und zu meiner großen Zufriedenheit, was ich niemals den Mut haben werde zu sagen; niemals aber werde ich etwas sagen, was ich nicht denke.“

Kant an M. Mendelssohn              Aus dem Brief vom 8. April 1766

Omri Boehm (*1979): Radikaler Universalismus (2022)

O. Boehm, der auf der Leipziger Buchmesse 2024 den Buchpreis zur Europäischen Verständigung erhalten und in Yale über Kants Kritik an Spinoza promoviert hat, sagte in seiner Dankesrede in Leipzig:

„Wir sehen die Öffentlichkeit verdunkelt und das Licht, das für das Selbstdenken notwendig ist, schwinden.“ Die Freundschaft erlaube es, unser Denken zu öffnen und die transformative Kraft, ja das revolutionäre Potential des Selbstdenkens in dunklen Zeiten zu bewahren.  … Im Augenblick scheine es utopisch, von Freundschaft zwischen Israelis und Palästinensern zu sprechen. Aber sei dies wirklich so? Da wo diese Freundschaften existierten, sei Licht. Israelische und palästinensische Freunde wissen, dass jeder, der das, was mein Land in Gaza tut, „Selbstverteidigung“ nennt, meine Identität zutiefst beschämt. … Auch in dunklen Zeiten müssen harte Wahrheiten ausgesprochen werden, denn wir sollen, sollen Freunde bleiben! Ein leiser Gruß an Lessing, dessen Nathan darauf bestand, wir müssen, müssen Freunde bleiben.“

O. Boehm schließt seine große Abhandlung „Radikaler Universalismus. Jenseits von Identität“ (2022/deutsch 2023) mit folgenden Worten:

„Die einzige Möglichkeit, die Antinomie von Identitäten aufzulösen, die einander nihilistisch löschen – „canceln“ -, besteht darin, auf die Gleichheit aller Menschen zu beharren statt auf Identität. Darin, die eigene Politik mit der Verpflichtung auf die Gleichheit aller Menschen zu beginnen und die Ansprüche von Identität an dieser Verpflichtung zu prüfen. Ja, Postkolonialisten wie Zionisten werden mir hier das gleiche entgegnen: dass dies ein Universalismus der Privilegierten sei, wir Opfer hingegen unsere eigene Identität bräuchten. Doch in „Israel – eine Utopie“ habe ich mir die Hände schmutzig gemacht, um zu zeigen, dass es möglich ist, eine solche Politik sowohl der jüdischen als auch der palästinensischen Erinnerung ebenso zu denken wie eine radikale Neustrukturierung des Landes, um einen gemeinsamen Begriff von Staatsbürgerschaft zu entwickeln: Ein geteiltes, binationales „Wir“ muss am Ende eines solchen politischen Prozesses stehen, nicht das Pochen auf dem jeweiligen ausschließenden identitären „Wir“ an seinem Beginn.

Die abstrakte, absolute Verpflichtung auf die Menschheit löscht die Identitäten nicht aus: ganz im Gegenteil sind es die Identitäten, die sich gegenseitig auslöschen. Letztlich wird nur der Universalismus sie verteidigen können. Ein falscher Universalismus wird dafür nicht genügen, nur die wahre, radikale Form. Sie zu erreichen, ist nicht leicht, wie Heschel und King wussten, und würde voraussetzen, dass man den Geist der Menschen aus der Grube befreit.“

Abraham Joshua Hechel (1907 – 1972)
zitiert nach O. Boehm: Radikaler Universalismus, 2023 S.148f.

„Unsere Welt scheint einer Schlangengrube nicht unähnlich. Wir sind nicht 1939 in diese Grube gelangt oder gar 1933. Wir sind vor Generationen in sie herabgestiegen, und die Schlangen haben ihr Gift in den Blutkreislauf der Menschheit gemischt …, wodurch sie unseren Geist trübe gemacht und unseren Blick verfinstert haben. … In unserem täglichen Leben haben wir die Stärke angebetet, die Barmherzigkeit verachtet und keinem Gesetz gehorcht als dem unseres unersättlichen Verlangens. Die Vision des Heiligen ist in der Seele des Menschen fast erstorben. Und als die Gier, der Neid und der rücksichtslose Wille zur Macht, jene Schlangen, die wir am

Busen unserer Kultur genährt haben, zur vollen Reife kamen, brachen sie aus ihren Höhlen aus und fielen über die hilflosen Völker her. … Die größte Aufgabe unserer Zeit besteht darin, die Seelen der Menschen aus der Grube herauszuholen.“

III. Weitere Welt- und Menschenbilder

Max Horkheimer (1886 – 1973)
in einem Vortrag „Bemerkungen zur Liberalisierung der Religion“
veröffentlicht 1971

„Alle unsere Begriffe sind subjektiv. Trotzdem oder eben deshalb können wir sagen, daß die uns umgebende Welt nicht die letzte Wirklichkeit ist. Eine echte Liberalisierung der Religion hat sich auf diese Einsicht zu konzentrieren. Ihr gegenüber sind Fragen der Änderung der Zeremonien und Gebräuche weit weniger wichtig. Die Hauptsache scheint mir die Neufassung des menschlichen Verständnisses von Gott zu sein. Gott als positives Dogma wirkt als trennendes Moment. Die Sehnsucht hingegen, dass die Welt mit ihrem Grauen kein letztes sei, vereint und verbindet alle Menschen, die sich mit dem Unrecht nicht abfinden wollen und können. Gott wird so zum Gegenstand der menschlichen Sehnsucht und Ehrung; er hört auf, Objekt des Wissens und Besitzes zu sein.

Ein so verstandener Glauben gehört unabdingbar zu dem, was wir menschliche Kultur nennen. Wir müssen anstreben, daß alle Menschen sich vereinigen, die den Schrecken der Vergangenheit nicht als endgültig betrachten wollen; daß sie sich zusammenfinden in der gleichen bewußten Sehnsucht, dass ein der bloß erscheinenden Welt entgegengesetztes Absolutes sei.“

Frans Masereel (1889 – 1972)

der große flämische Zeichner und Holzschneider, war 26 Jahre alt, als er im Jahre 1915 seine künstlerische Berufung erkannte und zum Mitkämpfer jener mutigen Geister wurde, die um Menschlichkeit und Frieden auf der Welt rangen. Was seine Hände mit Zeichenstift, Tuschpinsel und später mit Holzschnittwerkzeug schufen, war und wirkte ebenso stark auf die Menschen jener Zeit wie die Worte der Barbusse, Stefan Zweig, Romain Rolland, Thomas Mann. Das Erlebnis der Weltkatastrophe 1914 bis 1918 hatte Masereel tief erschüttert. Die Frage nach den Wurzeln des Übels, nach den Ursachen menschlicher Not ließ ihm keine Ruhe. In seinen großen Bildromanen hielt er seinen Zeitgenossen fortan unerbittlich den Spiegel vor ihre Augen. Ihre Schwächen, ihre Knechtschaft, ihre Laster und Leidenschaften sollten sie sehen. Aber Masereel ist und war nie Moralist, ihm lag nur daran, die Wahrheit zu zeigen. Sein Werk glaubt und verkündet das Gute im Menschen, indem es ohne Erbarmen und Schöntun nichts als die Wirklichkeit zeigt und, wenn es nottut, die Fratze enthüllt. Mit Meisterhand schildert er das Individuum und das Massenwesen Mensch in all seinen Extremen, in Vergeistigung und Tierhaftigkeit, in hässlicher Verzerrung und in Schönheit.

Frans Masereels Bilder sind Zeugen des Zusammenbruchs einer Epoche und ihrer Ordnung. Ihre Aussage gilt heute noch, sie wird immer gelten, weil sie die Wahrheit spricht.

Alexei Nawalny (1976 -2024)

schrieb kurz vor seinem Tod aus dem Gefängnis:

„Heute ist mein Geburtstag. Und … wie alle Menschen, die ein gewisses Alter erreicht haben (und ich bin heute 47 – wow), habe ich über die Errungenschaften des Jahres und die Pläne für das nächste Jahr nachgedacht …

An dem Geburtstag muss man ehrlich zu sich selbst sein, also habe ich mir eine Frage gestellt: Bin ich wirklich gut gelaunt oder mache ich das nur so? Meine Antwort lautet: Ich bin wirklich gut drauf. Natürlich wünschte ich mir, ich würde jetzt nicht in dieser Hundehütte aufwachen und mit meiner Familie frühstücken, von meinen Kindern Küsschen auf die Wange bekommen, Geschenke auspacken und sagen: Wow, das ist genau das, wovon ich geträumt habe. Aber das Leben funktioniert so, dass gesellschaftlicher Fortschritt und eine bessere Zukunft nur erreicht werden, wenn eine bestimmte Anzahl von Menschen bereit ist, für ihr Recht auf Überzeugungen zu zahlen. Je mehr solche Menschen es gibt, desto weniger zahlen alle. Und es wird sicher der Tag kommen, an dem das Aussprechen der Wahrheit und das Eintreten für die Gerechtigkeit in Russland etwas Alltägliches und überhaupt nichts Gefährliches sein wird. Aber bis es so weit ist, sehe ich meine Situation nicht als schwere Last an, sondern einfach als Arbeit. Jeder Job hat einen unangenehmen Teil, oder? Das ist der unangenehme Teil meines Lieblingsjobs im Moment.“